W7 Wachstum stärken – Ungleichgewichte abbauen – Wirtschaftspolitik europaweit koordinieren

Status:
Überweisung

Die Ursachen der Euro-Krise beseitigen: Für eine tragfähige und soziale Architektur der Eurozone

Die bisherigen Lösungsansätze zur Überwindung der Eurokrise verfehlen die eigentlichen Ursachen, gehen zu Lasten der Lebens- und Arbeitsperspektiven vieler Millionen Menschen, schaffen kein ausreichendes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum und bedrohen auf diese Weise den Bestand der Währungsunion und der EU als Ganzes. Ein Auseinanderbrechen der Eurozone würde unvorhersehbare wirtschaftliche Risiken für Europa und die Weltwirtschaft bedeuten. Von der damit verbundenen politischen Dimension eines gespaltenen Europa ganz zu schweigen.  Als Europapartei der ersten Stunde werden Sozialdemokraten eine Spaltung Europas niemals akzeptieren. Es ist die historische Aufgabe der SPD, neu aufkeimenden, rückwärtsgewandten Nationalismus entschlossen in die Schranken zu weisen.

Doch dazu muss Europa endlich einen sozialverträglichen Pfad aus der Eurokrise einschlagen und die gravierenden Konstruktionsfehler der Währungsunion konsequent beseitigen:

– Die Kritik an einer einseitig auf Kürzungen der Lohn- und Sozialeinkommen abzielenden Politik reicht quer durch sämtliche ökonomische Schulen, wie die Tagung der Wirtschaftsnobelpreisträger im Juli 2014 in Lindau eindrucksvoll dokumentiert hat. Europa braucht vordringlich eine gemeinsame Wachstums- und Investitionsstrategie, eine Rückkehr zum Primat der Politik gegenüber den Finanzmärkten, mehr Koordinierung und Harmonisierung sowie institutionelle Reformen. Notwendige Strukturreformen zur Überwindung von je besonderen nationalen Entwicklungsblockaden (z.B. Immobiliensektor in Spanien, effektive Verwaltungen in Italien oder Griechenland, Bekämpfung von Korruption und Steuerhinterziehung u.a.) können ihre Wirksamkeit am besten entfalten, wenn sie in eine Wachstumsstrategie eingebettet sind.

– Die Webfehler der Währungsunion bestehen in der mangelnden politischen Koordination der makroökonomischen Größen und in der Institutionalisierung einer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin. Mit Blick auf die Leistungsbilanzen, die Lohn- und Inflationsentwicklung sowie auch auf die Steuerharmonisierung muss der sukzessiven Abbau der bestehenden Ungleichgewichte konsequent ins Visier genommen werden. Die wirtschafts- und steuerpolitische Integration muss entscheidend vertieft, Europa mithin zu einer echten Wirtschafts- und Sozialunion weiterentwickelt werden. Eine regelgebundene Finanzpolitik und Schuldenabbau sind in diesem Rahmen unverzichtbar. Doch genau deshalb müssen sich Sozialdemokraten in ganz Europa auf den Weg machen, eine zum Dogma geronnene und im Kern neoliberale Austeritätspolitik zu überwinden. Denn die neoliberale Wirtschaftsdoktrin generiert aufgrund ihrer einseitigen Sparfixierung viel zu wenig Investitionsdynamik und Wirtschaftswachstum. Sie versperrt damit vor allem den Krisenstaaten die Möglichkeit, sukzessive aus der Verschuldung herauswachsen zu können. Zudem geht die Austeritätspolitik immer nur zu Lasten der Lohn- und Sozialeinkommen der breiten Schichten und führt zum drastischen Abbau von Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechten. Europa braucht deshalb einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel für mehr Wachstum und Investitionen und eine dauerhaft tragfähige Architektur der Eurozone.

Ein sozialverträglicher Wachstumspfad aus der Eurokrise ist möglich

 

  • Ein Zukunftsinvestitionsprogramm für Europa

Es kommt entscheidend darauf an, europaweit abgestimmt für mehr realwirtschaftliches Wachstum zu sorgen, damit die Staaten sukzessive aus der Verschuldung herauswachsen können. Europa braucht dringend eine europaweit koordinierte Wachstumsstrategie – etwa in Anlehnung und Fortschreibung der alten Pläne zum Ausbau der europäischen Infrastruktur von Jaques Delors. Der Juncker-Plan ist dafür kein Ersatz: Er zeigt zwar die richtige Einsicht, dass mehr Investitionen nötig sind, beschränkt sich dazu aber auf Umdeklarierung von Haushaltsmitteln und setzt auf die Hebelwirkung von Kreditmärkten, die gerade ihre Unfähigkeit erweisen, produktive Investitionen in Gang zu setzen.

Insbesondere für die Krisenländer gilt: ohne Wachstum keine Steuereinnahmen, ohne Steuereinnahmen keine erfolgreiche Konsolidierung. Diese Länder müssen deshalb wieder auf einen Wachstumspfad zurückkehren können. Dieser Weg muss durch ein europäisches Programm für öffentliche Zukunftsinvestitionen unterstützt werden. Damit ein solches Investitionsprogramm tatsächlich eine spürbare Wirkung auf die europäische Wirtschaft hätte, müsste es ausreichend groß dimensioniert sein. Das Ausgabevolumen sollte dabei mindestens ein Prozent des Euro-Zonen-BIP, also rund 100 Milliarden Euro jährlich ausmachen. Gefordert ist in diesem Zusammenhang eine investitionsfördernde Reform des Fiskalpaktes. Denn die geltenden Fiskalregeln der EU ebenso wie die

Vorgaben zur Haushaltssanierung durch die ESM-Programme und den IWF haben dazu geführt, dass in den vergangenen Jahren öffentliche Ausgaben in einer Art und Weise gekürzt wurden, die das Wirtschaftswachstum in Europa sowohl von der Angebots- als auch von der Nachfrageseite stark belastet. So wurden unter anderem Ausgaben für öffentliche Investitionen in Infrastruktur ebenso massiv gekürzt wie Bildungsausgaben und öffentliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Sowohl in Deutschland als auch in der Eurozone insgesamt liegen die öffentlichen Nettoinvestitionen (also Bruttoinvestitionen abzüglich Abschreibungen für Abnutzung) nun im negativen Bereich. Sprich: die öffentliche Infrastruktur verfällt zusehends. Nach allen Erkenntnissen der neueren Wachstumstheorie sind allerdings gerade diese Ausgaben besonders wichtig für die Effizienz einer Volkswirtschaft, ihren technologischen Fortschritt und das mittelfristige Wachstumspotential. Ein europäisches Wachstumsprogramm muss deshalb entschieden daraufsetzen, diese öffentlichen, produktivitätssteigernden Ausgaben wieder zu erhöhen.

  • Ausgleich von Leistungsbilanzungleichgewichten durch mehr Binnennachfrage

Entscheidende Wachstumsimpulse für die Eurozone müssen von den Überschussländern ausgehen. Diese müssen ihre eigene Binnennachfrage und ihre Inlandsinvestitionen substanziell erhöhen, weil die Leistungsbilanzdefizitländer kaum eigene expansive Impulse setzen können. Vor allem Deutschland ist hier gefordert es muss seinen Niedriglohnsektor zurückdrängen, die öffentlichen Investitionen ausweiten und zudem über ein höheres Lohnniveau einen wesentlichen Beitrag zur dauerhaften Erhöhung der Binnennachfrage leisten. Der Ausgleich der Ungleichgewichte kann nur beidseitig gelingen. Denn zum einen kann eine reine Abwärtsanpassung des Preis- und Lohnniveaus in den Krisenländern der Euro-Zone nicht gewünscht sein. Preis- und Lohnsenkungen machen nämlich tendenziell die Bedienung der Schulden von Haushalten, Unternehmen und der öffentlichen Hand noch schwieriger, weil die reale Schuldenlast steigt. Dies führt zu weiteren Problemen im Bankensektor und zu einer dauerhaft gedämpften gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Zum anderen wäre eine einseitige Anpassung der Krisenländer auch alles andere als nachhaltig: Denn die Eurozone insgesamt – deren Leistungsbilanz einigermaßen ausgeglichen ist – würde dann hohe Überschüsse im Handel mit anderen Wirtschaftsregionen ausweisen und den Euro in eine massive Aufwertungstendenz bringen. Alle Bemühungen der Krisenländer, ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, würden durch eine Aufwertung konterkariert. Deshalb ist die makroökonomische Koordinierung von zentraler Bedeutung.

  • Steuer-, Lohn- und Sozialdumping verhindern

Die Eurozone muss eine gezielte Steuer-, Sozial- und Inflationskonvergenz anstreben. Es braucht auf hohem Niveau harmonisierte Körperschaftssteuern mit vergleichbaren steuerlichen Bemessungsgrundlagen sowie Mindestlohnkorridore und Lohnleitlinien nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Es geht darum, ein Steuer- und Lohndumping sowie die damit verbundenen unkoordinierten realen Abwertungen im Euroraum besser unterbinden zu können. Eine gemeinsame Währungsunion kann nur dann funktionieren, wenn das vereinbarte Inflationsziel von allen Mitgliedsstaaten verfolgt wird. Demnach muss gewährleistet werden, dass jedes Land seine Löhne jährlich in angemessenem Umfang steigert. Das bedeutet insbesondere, dass Krisenstaaten, welche ein zu hohes Lohnwachstum in der letzten Dekade generiert haben, nun Lohnzurückhaltung üben müssen, während in Überschussländern, insbesondere in Deutschland, Lohnzuwächse von deutlich über zwei Prozent über den Produktivitätszuwächsen realisiert werden müssen.

  • Europäische Regulierung des Finanz- und Bankensektors

Der Finanz- und Bankensektor muss einer strikten und europaweit wirksamen Regulierung unterzogen und die Verursacher der Finanzkrise über eine europaweite Finanztransaktionssteuer zur Tilgung der Staatsdefizite herangezogen werden. Ohne Wirtschaftswachstum kann die Konsolidierung dauerhaft nicht gelingen. Eine weitere wichtige Bedingung für erfolgreiche Konsolidierung besteht aber darin, ausreichende Steuereinnahmen zu generieren. Deshalb müssen die Krisenverursacher – die Finanzmärkte – an der Finanzierung der Krisenfolgen durch die Einführung der Finanztransaktionssteuer beteiligt werden – konzipiert mit breiter Bemessungsgrundlage und wenigen Ausnahmen. Der Steuersenkungswettbewerb bei Unternehmenssteuern ist zu beenden, auch Großkonzerne und Vermögensmillionäre müssen sich angemessen an der Finanzierung ihrer Gemeinwesen beteiligen.

  • Schuldentilgung nicht zu Lasten des Wachstums

Die Refinanzierung der Krisenländer muss im Tausch gegen glaubwürdige Verpflichtungen zum Schuldenabbau nachhaltig abgesichert werden wie dies etwa der Sachverständigenrat mit dem sog. Schuldentilgungsfonds vorgeschlagen hat. Die übermäßige Verschuldung der Euro-Länder jenseits einer Verschuldungsmarke von 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung kann realistisch nur in einem Zeitraum von 20 bis 25 Jahren auf Basis einer gemeinsamen Teilhaftung abgebaut werden. Mit der Gründung eines sog. Schuldentilgungsfonds nach dem Vorschlag des deutschen Sachverständigenrats kann die Haftung – anders als bei Eurobonds – zeitlich wie volumenmäßig begrenzt und mit einer „klaren, langfristigen und glaubwürdigen Verpflichtung aller teilnehmenden Länder für den Schuldenabbau“ verbunden werden. Zudem muss die unabweisbar notwendige Umschuldung Griechenlands in Angriff genommen und die Rückzahlung der Kredite an das Wirtschaftswachstum gekoppelt werden, damit Anreize für wachstumsfördernde Maßnahmen geschaffen werden.

  • Sparpolitik verschärft die wirtschaftlichen Probleme

Die Krisenländer haben bereits – zulasten ihres Wirtschaftswachstums – drakonische Sparmaßnahmen umgesetzt. Entgegen weitverbreiteter Annahmen hat vor allem Griechenland seine Ausgaben reduziert. Die Anzahl der öffentlichen Beschäftigten sank in Griechenland zwischen 2009 und 2014 von 907.351 auf 651.717. Das ist ein Rückgang von 25 Prozent. Das staatliche Defizit betrug im Jahr 2009 noch 15,6 Prozent. Im Jahr 20014 sank es auf -2,5 Prozent. Kein Land der Welt hat sein Staatsdefizit in einem solchen Ausmaß und in derart kurzer Zeit reduziert. Von weiteren drakonischen Sparmaßnahmen bei den Masseneinkommen ist jedoch in der gesamten Eurozone unbedingt abzusehen. Andernfalls droht jederzeit der Rückfall in schwere Rezessionen. Eine erneute Rezession in den Krisenländern würde sämtliche Konsolidierungsbemühungen nahezu aussichtslos machen. Allerdings müssen die Krisenländer ihre Ausgabenpfade bei Löhnen und Staatsausgaben noch einige Jahre verlangsamen, um ihre Defizite zu verringern. Weitere absolute Absenkungen bei Staatsausgaben oder Löhnen müssen aber vermieden werden, vielmehr sind Zuwächse zur wirtschaftlichen Stabilisierung erwünscht, sie müssen aber unterhalb der „Normalzuwachsrate“ von Produktivität plus Zielinflationsrate bleiben.

  • Soziale Rechte und demokratische Strukturen in der EU stärken

Die europäische Wirtschafts- und Finanzunion muss durch eine Sozialunion flankiert werden. Die sozialen Grundrechte, wie sie bereits in der EU-Grundrechtscharta angelegt sind, dürfen nicht den Marktfreiheiten im europäischen Binnenmarkt untergeordnet werden, sondern müssen ihnen vorgehen. Mit einer sozialen Fortschrittsklausel muss dieses Prinzip vertraglich im europäischen Primärrecht festgeschrieben werden. In Europa muss gelten: gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Lohn- und Sozialdumping darf kein Raum gegeben werden. Dazu müssen auch die Spielräume für Mitbestimmung in den europäischen Unternehmen erweitert, die Rechte der europäischen Betriebsräte deutlich ausgebaut werden. Arbeitnehmer aus unterschiedlichen EU-Staaten dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern müssen die Chance haben, ihre Interessen gemeinsam zu vertreten. Politisch ausgestaltet werden muss die europäische Sozialunion vor allem dadurch, dass soziale Ziele und Mindeststandards europäisch verbindlich vereinbart werden. In einem sozialen Stabilitätspakt müssen Ziele und Vorgaben für Sozial- und Bildungsausgaben gemessen am BIP der jeweiligen Staaten ebenso wie existenzsichernde Mindestlöhne in allen EU-Mitgliedstaaten gemessen am jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommen festgeschrieben werden.

Die Realisierung einer solchen Sozialunion kann nicht gelingen im Rahmen einer autokratischen Wirtschafts- und Finanzpolitik auf EU-Ebene, die ohne Mitbestimmung des Europäischen Parlaments und auch gegen den Willen der nationalen Parlamente durchgesetzt wird und dabei neben dem forcierten Sozialabbau auch Eingriffe in die Tarifautonomie und das Tarifvertragsrecht, Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst und Absenken des Mindestlohns erzwingt und mit Privatisierungsmaßnahmen neue Anlagesphären fürs Finanzkapital zulasten der Daseinsvorsorge schafft. Zugleich bemüht sich die EU, die Festlegung auf einen neoliberalen Kurs zu verstärken: mit den verschiedenen verhandelten Freihandelsabkommen, mit weiteren Versuchen, den europäischen Kapitalmarkt auszubauen und mit Fortführung einer Politik der Standortkonkurrenz zwischen den Ländern und Regionen der EU – logische Folge der angestrebten „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“.

Nicht nur in den „Krisenländern“ erweckt dieses Vorgehen den Eindruck, die „nationalen“ Interessen seien gegen die EU durchzusetzen. Dies führt zu merkwürdigen Ergebnissen wie beim Brexit – wo die Öffnung des Arbeitsmarktes zum Argument gegen die EU wurde, obwohl die britische Regierung in diesem Punkt der EU-Politik gerade nicht gefolgt war.

Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik muss als demokratischer Prozess erfolgen und nicht als technokratische Durchsetzung vermeintlicher ökonomischer Sachzwänge. Die Politik der negativen Integration, die wachsenden Wohlstand und Kohäsion von freien Wirken der Marktkräfte erwartete, ist gescheitert. Der Niedergang der europäischen Sozialdemokratie zeigt auch, dass unter diesen Voraussetzungen eine Politik des sozialen Ausgleichs nicht mehr überzeugend formuliert werden kann. Daher ist gerade die Sozialdemokratie im wirtschaftlich stärksten Land der EU gefordert, eine Alternative zu entwickeln, die Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung wieder in den Mittelpunkt rückt.

Begründung:

Die Ursachen der Krise schwelen weiter

 

Nach mehreren Jahren Eurorettungspolitik und auch nach der jüngsten Einigung mit Griechenland kann weder von einer erfolgreichen Bewältigung der Eurokrise noch von der Beseitigung ihrer tieferliegenden Ursachen gesprochen werden. Auch mit dem dritten Hilfspaket zur Refinanzierung laufender Schulden des griechischen Staatshaushalts wird im wesentlichen nur Zeit gekauft, ohne die Schuldentragfähigkeit wesentlich zu verbessern. Mit dem erneuten Spardiktat droht im Gegenteil ein weiterer Einbruch der Wirtschaftsleistung und damit ein weiterer Schuldenzuwachs.

 

Schon im Sommer 2012 stand die Eurozone vor dem Aus. Die Krisenländer taumelten wegen der drakonischen Sparvorgaben geradewegs in schwere Rezessionen mit der Konsequenz eines massiven Rückgangs von Sozialprodukt und Steuereinnahmen. Als Folge der Sparpolitik und der dadurch bedingten Wachstumseinbrüche wurde das Vertrauen der Kreditgeber in die Schuldentragfähigkeit der Krisenländer massiv untergraben, sodass immer neue Risikoaufschläge für die Staatsanleihen der Krisenstaaten fällig wurden.  Erst die Intervention der Europäischen Zentralbank vom Sommer 2012 verhinderte das Auseinanderbrechen der Eurozone, weil sich die Krisenstaaten seit diesem Zeitpunkt wieder zu halbwegs vertretbaren Zinsen refinanzieren können.

 

Desaströse Bilanz der Austeritätspolitik

 

Immerhin konnte in der Eurozone zuletzt eine leichte wirtschaftliche Erholung festgestellt werden. Doch die Bilanz der Austeritätspolitik in Europa ist nicht nur in sozialpolitischer Hinsicht niederschmetternd. Sie ist auch ökonomisch ein Desaster. Die Arbeitslosigkeit und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit befinden sich auf Rekordhöhen.  Die Austeritätspolitik produziert eine „verlorene Generation“ in vielen Ländern Europas. Kinderarmut und Sterblichkeitsraten sind massiv angestiegen. Selbst die Krisenstaaten, die von neoliberalen Ökonomen vorgeblich als Modell für eine „erfolgreiche“ Sparpolitik ins Feld geführt werden, müssen mit sozial- und gesellschaftspolitischen Verheerungen zurechtkommen, an denen die jeweils nächste Generation noch zu tragen hat.  So haben etwa Irland und Spanien eine ganze Generation junger und bestens qualifizierter Menschen verloren. Hunderttausende mussten jeweils auswandern, weil sich keine wirtschaftliche Perspektive abzeichnet. So schnellte etwa in Irland die Jugendarbeitslosigkeit von neun auf derzeit 24 Prozent hoch. Nirgends in Europa ist die Zahl der 20- bis 29-Jährigen zuletzt so stark zurückgegangen wie in Irland. EU-weit sank sie durch Auswanderung und schwächere Geburtenjahrgänge von 2008 auf 2014 um fünf Prozent, in Griechenland und Spanien um 21 Prozent, in Irland um ganze 28 Prozent. Vor der Krise waren 22,5 Prozent der Kleinkinder in Irland armutsgefährdet, 2013 waren es 31,4 Prozent.

 

Griechenland steht als Folge einer unverantwortlichen Regierungspolitik früherer Regierungen und eines halben Jahrzehnts härtester Austeritätspolitik vor einem wirtschaftlichen, sozialen, menschlichen und demokratiepolitischen Scherbenhaufen:

 

– Einbruch der realen Wirtschaftsleistung seit 2008: mehr als 20 Prozent

– Aktuelle Arbeitslosenquote: 27 Prozent

– Aktuelle Jugendarbeitslosenrate: 58 Prozent

– Aktueller Stand der Staatsschulden, in Prozent des Bruttoinlandprodukts: 175 Prozent

– steiler Anstieg der Sterblichkeitsrate als Folge der brutalen und zutiefst inhumanen Kürzungen der Gesundheitsbudgets

 

Wenn der Sicherung von Gläubigeransprüchen gegenüber den Grundbedürfnissen der Menschen auf medizinische Versorgung oder der Kinder und Jugendlichen auf eine Kindheit und Jugend ohne Armut und Perspektivlosigkeit Vorrang eingeräumt wird und infolgedessen die Sterblichkeit binnen kürzester Zeit rasant ansteigt: dann muss von einem partiellen Zivilisationsbruch mitten in Europa gesprochen werden. Millionen Menschen leiden unter dieser Politik. Europa verliert sein menschliches Antlitz.

 

Die bisherigen zwei „Rettungspakete“, die für Griechenland geschnürt wurden, brachten zwar Geld von offiziellen Institutionen. Doch mit diesem Geld musste Griechenland vor allem seine privaten ausländischen Gläubiger bedienen. Plakativ gesagt: Die Troika gewährte Athen Kredit, damit vor allem deutsche und französische Banken auf ihren griechischen Staatsanleihen keine Verluste erleiden mussten.

 

Die Sparopfer breitester Bevölkerungsschichten waren jedoch sinnlos. Denn auch wirtschaftspolitisch ist die Austeritätspolitik gescheitert. Während etwa die USA mit expansiverer, keynesianisch geprägter Geld- und Finanzpolitik die Folgen der Finanzkrise vergleichsweise gut überstanden haben und mit ihrer Wirtschaftsleistung fast 10 % über dem Vorkrisenniveau liegen, hat die Eurozone (ohne Deutschland) als Folge der Sparpolitik im Jahr 2014 noch nicht einmal den Einbruch von 2008 (Einbruch infolge des Ausbruchs der Finanzkrise, Lehmann-Brothers-Pleite) wettgemacht. Lediglich in Deutschland liegt die Wirtschaftsleistung heute wieder über dem Niveau von 2008. Doch in Deutschland wurden in der Folge der Finanzkrise auch keine Sparpakete aufgelegt, sondern im Gegenteil ein 80 Mrd. Euro schweres Konjunkturpaket (Abwrackprämie, Kurzarbeitergeld, energetische Gebäudesanierung).

 

Auch der Internationale Währungsfonds verweist darauf, dass die auf den ersten Blick positiveren Daten der jüngsten Zeit auf tönernen Füssen stehen:

 

  1. Von der Binnennachfrage ist in den Peripherieländern kein Wachstum zu erwarten. Das verhindern die hohe private Verschuldung, die Sparmaßnahmen der Regierungen, die eingeschränkte Kreditvergabe der schwachen Banken und die immer noch hohen Zinsen. Die ganze Hoffnung liegt für diese Länder im Export. Zuletzt haben nun die Krisenstaaten ihre Leistungsbilanzdefizite, die bis zur Finanzkrise dramatisch angestiegen sind, spürbar verringern können. Irland weist sogar Leistungsbilanzüberschüsse aus. Die Lohnstückkosten sind gesunken. Doch die Ernüchterung folgt sogleich: das Exportwachstum der Krisenstaaten erfolgt nicht an die übrigen Mitglieder der Währungsunion, sondern in die übrige Welt. Die Exporte an die anderen Eurostaaten sind sogar weiter abgesunken. Diese Entwicklung kann nicht nachhaltig sein, da der Rest der Welt nicht auf Dauer bereit ist, gegenüber der Eurozone Defizite zu verzeichnen – was die Kehrseite der europäischen Überschüsse ist. Innerhalb von Europa hat jedoch keine Entwicklung hin zu einem Ausgleich der Außenhandelsströme stattgefunden.

 

  1. Die tieferen Lohnstückkosten in den Peripherieländern sind leider nicht Ausdruck einer strukturellen Verbesserung, sondern Folge der Krise: die Produktivität ist nur gestiegen, weil das Bruttoinlandprodukt in den Krisenländern nicht gleich stark abgenommen hat wie die Beschäftigung. Wenn weniger Beschäftigte mehr Güter herstellen, sinken die Kosten pro Stück. Das ist alles. Der «Erfolgsfaktor» ist also vor allem der dramatische Anstieg der Arbeitslosigkeit. Auch das ist keine nachhaltige Entwicklung. Der IWF kommt daher zum Schluss, dass sich die Außenhandelsposition der geschwächten Länder mit einer verbesserten Wirtschaftslage und einer tieferen Arbeitslosigkeit sogleich wieder verschlechtern würden. Um mit den eigenen Produkten nachhaltig wettbewerbsfähig zu werden, müssten die Peripherieländer ihre Preise sehr viel stärker senken. Ein struktureller Wandel hin zu tieferen Preisen und einer deutlich höheren Wettbewerbsfähigkeit hat in den Peripherieländern aber kaum stattgefunden. Die Politik der internen Abwertung funktioniert nicht: trotz zäher Rezession, „Strukturreformen“ und Austeritätsprogrammen ist der Prozess der internen Abwertung in den Peripherieländern nicht sehr weit fortgeschritten. Eine Lösung für die Eurokrise zeichnet sich auch an dieser Stelle nicht ab. Die positiven Daten der jüngsten Zeit stehen auf einem schwachen Fundament.

 

Die Finanzkrise hat die Eurokrise nicht verursacht, aber ausgelöst

 

Aus der Perspektive der „Troika“ liegt die Ursache der Staatsschuldenkrise in der „nachlässigen Haushaltspolitik“ der Krisenländer. Dieser Ansatz ignoriert die entscheidenden Krisenursachen und verdreht schlicht Ursache und Wirkung. Denn in den allermeisten Mitgliedsländern der Währungsunion sind die Staatsausgabenquoten bis zum Ausbruch der Finanzkrise gesunken oder nur moderat gestiegen. In einigen der jetzigen Krisenländer sanken die Staatsschuldenquoten sogar drastisch. Von einer „nachlässigen Haushaltspolitik“ konnte keine Rede sein. Lediglich in Griechenland mit einer traditionell höheren Staatsschuldenquote (bei 100 Prozent) lag und liegt das Problem in einer extrem niedrigen Steuereinnahmequote mit dramatischen administrativen Schwächen der Steuererhebung im Hintergrund.

 

Die Hauptursache für den Defizitanstieg seit 2007 liegt dagegen eindeutig im Ausbruch der Finanzkrise. Die nationalen Regierungen mussten mit Schutzschirmen für den Finanzsektor und zur Stützung der einbrechenden Konjunktur die Staatsschulden signifikant heraufsetzen. Diese Ursache-Wirkungs-Kette verweist grundsätzlich auf die Notwendigkeit, den Finanzsektor und die hohen Geldvermögen weitaus stärker an der notwendigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zu beteiligen.

 

Konstruktionsfehler der Währungsunion

 

Ein Anstieg der Defizite bzw. der Staatsschuldenquoten ist jedoch für sich gesehen kein Grund, um Zweifel an der Schuldentragfähigkeit eines Landes aufkommen zu lassen. Das Problem liegt darin, dass die Krisenländer eine hohe Auslandsverschuldung aufweisen, weil nicht nur der Staatssektor, sondern auch der Privatsektor verschuldet ist (= Leistungsbilanzdefizit). Deutschlands Staatsschuld liegt bei zwei Billionen Euro, das Geldvermögen der Privaten beträgt aber fünf Billionen Euro; die Refinanzierungsmöglichkeiten bei den eigenen Bürgern ist unzweifelhaft. Bei den Krisenländern ist es umgekehrt. Die dortigen Refinanzierungsprobleme sind zwar durch Spekulationsaktivitäten verschärft worden, haben aber einen realen Grund: weil die Staatsschulden einem ebenso verschuldeten Privatsektor gegenüberstehen, stellt sich irgendwann die Frage nach der Schuldentragfähigkeit. Das ist das entscheidende Problem der Leistungsbilanzdefizitländer.

 

Diesen stehen in der Eurozone einige Länder mit extremen Leistungsbilanzüberschüssen gegenüber (Deutschland, einige kleinere Länder). Die Ursache dieser Ungleichgewichte, wie sie in den letzten zehn Jahren entstanden sind, liegt in der unterschiedlichen Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit. Während Deutschland deutlich an Wettbewerbsfähigkeit gewann, verloren die Krisenländer zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit.

 

Diese „Wettbewerbslücke“ gründet entgegen allgemeiner Vorurteile nicht auf einer besonderen Innovationsfreudigkeit Deutschlands einerseits und der Produktivitätserlahmung Griechenlands bzw. anderer Krisenländer andererseits. Denn die Produktivität ist in Deutschland jährlich um 0,9 Prozent, in der Eurozone um 0,8 Prozent und in Griechenland immerhin um 2,1 Prozent gestiegen. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und das Zurückfallen Südeuropas lief ausschließlich über die Löhne und – weil die Lohnstückkosten das interne Preisniveau dominieren – über die Preise. In Südeuropa stiegen die Lohnstückkosten um bis zu 30 Prozent, in Deutschland dagegen unter fünf Prozent, wobei hier die Ausweitung des Niedriglohnsektors eine besondere Rolle spielte. Den Normalanstieg – Produktivität plus Zielinflationsrate – repräsentiert Frankreich mit einer Erhöhung um gut 20 Prozent.

 

Werden Überschüsse und Defizite immer weiter kumuliert, führt dies zum Aufbau von Gläubiger-Schuldner-Verhältnissen, die nicht dauerhaft tragfähig sind. Gibt es hier keine Umkehr, führt an der Entwertung der Gläubigerpositionen kein Weg vorbei, denn irgendwann werden die Schuldner zahlungsunfähig.

 

Hier liegt der entscheidende Konstruktionsfehler der Währungsunion, nämlich in der Nicht-Koordination der makroökonomischen Größen: Leistungsbilanzen, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Lohn- und Inflationsanpassung.

 

Denn ein Staat, der sich der Europäischen Währungsunion anschließt, gibt seine geldpolitische Souveränität auf. Er verliert die Freiheit, sein Zinsniveau zu bestimmen, seine Währung abzuwerten, seine Zentralbank als Kreditgeberin letzter Instanz («lender of last resort») zu benutzen. Der Verlust dieser Freiheit kann nur kompensiert werden, wenn der betreffende Staat Teil eines größeren Fiskalgebildes wird, mit definierten Transfer-Zahlungsflüssen, die Ungleichgewichte in der wirtschaftlichen Dynamik lindern.

 

Dass die Auseinanderentwicklung bei Lohnzuwächsen und Wettbewerbsfähigkeit zu einem ernsten Problem wurde, hat seinen Grund in der Existenz der Währungsunion, deren Charakteristikum ist, dass kein Mitgliedsland seine Währung auf- oder abwerten kann: Obwohl Griechenland und die anderen Südeuropäer höhere Inflation und Leistungsbilanzdefizite haben, können sie nicht abwerten, weil sie in der Eurozone sind. Andernfalls würden sich diese Defizite so gar nicht herausgebildet haben! Obwohl Deutschland eine interne Inflationsrate unterhalb des EZB-Ziels und andauernd hohe Leistungsbilanzüberschüsse hat, kann Deutschland nicht aufgewertet werden, weil es in der Eurozone ist. Andernfalls hätten die hohen Überschüsse wegen anhaltender Aufwertung gar nicht entstehen können!

 

Es ist deshalb Deutschland, dass am stärksten von der Währungsunion profitiert. Und es ist Deutschland, dass bei einer Rückkehr zu nationalen Währungen die stärksten wirtschaftlichen Einbrüche hinzunehmen hätte. Eine Rückkehr zur D-Mark und eine Re-Nationalisierung ist weder im europäischen, noch im deutschen Interesse. Die Währungsunion muss deshalb entschieden gegen neu aufkeimenden Nationalismus verteidigt werden. Dazu müssen aber die Konstruktionsfehler der Währungsunion beseitigt und die bisherigen Blockaden innerhalb der Eurozone aufgelöst werden.

 

Eine Währungsunion erfordert eine Koordination der Preise

 

Die Feststellung, dass Unterschiede hinsichtlich der Leistungsbilanzen im Euroraum bestehen, stellt jedoch noch keine vollstände Analyse der Ursachen der Ungleichgewichte dar. Die Ungleichgewichte innerhalb Europas haben sich verfestigt, weil in Deutschland die Löhne real nur geringfügig angestiegen sind, während etwa in vielen Krisenstaaten ein überproportional großes Lohnwachstum über die letzte Dekade stattfand. Schließlich machen Lohnstückkosten den größten Kostenfaktor ausnahmslos jeder Volkswirtschaft aus, sodass sich hinsichtlich des Außenhandels eine bessere Stellung desjenigen Landes ergibt, welches im Vergleich geringere Lohnzuwächse aufweist. Die Europäische Währungsunion wuchs in diesem Sinne nicht zusammen, sondern driftete auseinander. Während die Lohnstückkosten der deutschen Industrie seit der Einführung des Euro um 14 Prozent gesunken sind, blieben sie in Griechenland (das zwei Jahre später in die Währungsunion startete) gleich. In Portugal stiegen sie um 5 Prozent, in Spanien um 28 und in Italien gar um 46 Prozent.  Damit haben beinahe alle Staaten das gemeinsam festgelegte Inflationsziel der Europäischen Zentralbank von jährlich 2 Prozent torpediert und sich höchst unkooperativ verhalten. Sowohl mit Lohndumping als auch mit Lohnexpansion wird dabei das Inflationsziel unterminiert.

 

Es stellt sich die Frage, welches Land hinsichtlich des Lohnstückkostenwachstums im Sinne einer kooperativen und auf Ausgleich bedachten Europäischen Union falsch gehandelt hat. Das Ergebnis ist ein Einfaches, wenn man die Zielinflation betrachtet. Inflation ist im Wesentlichen die Wachstumsrate der Preise. Diese wiederum ergeben sich durch das Verhältnis Geldmenge zu Gütermenge. Letztere wird durch die Konkurrenzfähigkeit eines Unternehmens maßgeblich beeinflusst, sodass bei einer günstigen Wettbewerbssituation, wie sie in Deutschland zu finden ist, relativ mehr Güter produziert werden. Demnach müssten die Preise fallen, da der gleichen Geldmenge eine höhere Güteranzahl gegenübersteht. Die Geldmenge hingegen erhöht sich, indem höhere Löhne gezahlt werden, anstatt Kapital in das Ausland zu exportieren. Deutschland exportiert aufgrund der Leistungsbilanz relativ viel Kapital in das Ausland, während relativ geringe Löhne zu relativ hoher Wettbewerbsfähigkeit und damit zu einer hohen Produktion führen. In Griechenland ist die Situation exakt spiegelbildlich: Hohe Löhne, geringe Wettbewerbsfähigkeit und geringe Produktion liegen vor. Dies lässt sich auch auf die Entwicklung der nationalen Inflationsraten übertragen: Während in Deutschland fast jedes Jahr der vergangenen Dekade die Zielinflation unterschritten wurde, wurde sie in Griechenland fast ausschließlich überschritten. Kumuliert ergibt sich über ganz Europa nahezu für jedes Jahr das Erreichen der Zielinflation. Aber eben nicht, weil alle Länder des Euroraums sich an die 2% Zielinflation gehalten haben – dies wurde von fast jedem Land, Frankreich ausgenommen, verfehlt – sondern eben, weil es Länder gab, welche sich in keiner Weise an die Inflationsziele gehalten haben, und eben auch Länder wie Griechenland, welche sich spiegelbildlich verhalten haben. Dabei ist die Faustformel, welche für die Konstruktion der Inflation gemäß Cost-Push-Theorie existiert, einerseits trivial und andererseits empirisch valide: Um ein Inflationsziel von 2% zu erreichen, müssen die Löhne jedes Jahr um 2% stärker steigen, als die Produktivität des Landes.

Die Erklärung dieses Ansatzes ist intuitiv einfach: Steigen Produktion und Löhne um 1%, so steht der um 1% höheren Gütermenge eine um 1% höhere Geldmenge gegenüber, was zu konstanten Preisen und damit zu einer Nullinflation führt. Steigen die Löhne hingegen um 2% stärker als die Produktivität, so ist das Verhältnis in diesem Szenario 1,03*Geldmenge/1,01*Gütermenge und damit nahe 2% Wachstum. Aufgrund der geringen Produktionszuwächse (in einem Bereich von null bis fünf Prozent pro Jahr) ist die Faustregel extrem präzise. Auch seien die Transmissionskanäle kurz genannt: Höhere Löhne führen zu höheren Kosten in der Produktion, was die Produzenten dazu bringt, die Preise zu erhöhen, um gleiche Gewinne realisieren zu können. Gleichzeitig führt mehr Kaufkraft seitens der Arbeitnehmer zu einer höheren Güternachfrage, was sich wiederum positiv auf das Preiswachstum auswirkt. Würden demnach in allen Ländern der Eurozone die Löhne um 2% stärker als die nationale Produktivität steigen, so ergäbe sich für jedes Land die Zielinflation von 2% und gleichzeitig würde ein Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit und damit größere Unterschiede hinsichtlich der Leistungsbilanzen vermieden. Dennoch genügt das Verfolgen dieser Faustregel nicht, um ein neues Gleichgewicht im Euroraum herzustellen, sondern lediglich, um weitere Ungleichgewichte zu verhindern. Für die Aufhebung der vorliegenden Disparitäten müsste Deutschland seine Löhne stärker erhöhen, während die Löhne in Krisenländern schwächer wachsen müssten. Für Frankreich ergäben sich, aufgrund der vorbildhaften Verfolgung der Zielinflation, keine Änderungen.

 

Es sei ferner angemerkt, dass der Versuch, das deutsche Modell des Lohndumpings auf sämtliche Krisenstaaten zu übertragen, in keiner Weise nachhaltig wäre. Würden alle Länder der Eurozone ihre Löhne nur mit den deutschen Raten der 00er Jahre „wachsen“ lassen, so würde dies zu einer massiven Unterschreitung der Zielinflation in ganz Europa führen. Dies würde eine Deflation heraufbeschwören mit den bekannten Abwärtsspiralen für die Wirtschaft: das negatives Preiswachstum würde zu Konsumzurückhaltung führen, was wiederum aufgrund des Ungleichgewichts zwischen Überangebot und Unternachfrage zu weiteren Preissenkungen und damit schlussendlich zum Ruin der europäischen Wirtschaftsarchitektur führen würde. Sofern sich Europa eine gemeinsame Währungsunion wünscht – und dafür sollten insbesondere wir Sozialdemokraten einstehen – so müssen sich ausnahmslos alle Eurostaaten hinsichtlich der Lohnpolitik koordinieren und dafür Sorge tragen, dass die Zielinflationsvorgaben im Kern eingehalten werden.  Andernfalls droht langfristig ein Zerreißen der Währungsunion, weil die Disparitäten immer weiter zunehmen würden. Sechzig Jahre erfolgreicher europäischer Integrationsgeschichte würden in diesem Fall zur Disposition stehen.

 

Deutschlands Exportstärke ist kein Hindernis für eine zukunftsfähige Eurozone. Doch Inlandskonsum und Inlandsinvestitionen müssen merklich zunehmen.

 

Die Kritik von international renommierten Ökonomen und Nobelpreisträger, des US-Finanzministeriums oder des Internationalen Währungsfonds an den deutschen Leistungsbilanzüberschüssen ist deshalb berechtigt. Nicht alle Staaten können gleichzeitig einen Überschuss erzielen. Das makroökonomische „Geschäftsmodell“ von Überschussländern besteht daher faktisch in der Verschuldungsbereitschaft anderer Länder.  Wenn sich die Ungleichgewichte immer weiter verschärfen und es niemals zum Ausgleich kommt, droht die Eurozone über kurz oder lang auseinanderzubrechen.

 

Die dringenden Aufrufe des US-Finanzministeriums oder des Internationalen Währungsfonds an Deutschland, seinen riesigen Leistungsbilanzüberschuss abzubauen, stoßen hierzulande jedoch auf wenig Verständnis bzw. fast ausschließlich auf negative Resonanz. Der Bundesverband der Deutschen Industrie ließ verlauten, die Exportstärke sei das Ergebnis innovativer Produkte, die in der ganzen Welt nachgefragt würden.

 

Das ist zwar richtig. Doch treffen derartige Aussagen den Kern der Problematik in keiner Weise. Denn weder das US-Finanzministerium noch der IWF haben verlangt, dass die deutsche Wirtschaft weniger exportieren solle. Sie haben lediglich darauf verwiesen, dass der deutsche Leistungsbilanzüberschuss viel zu groß sei. Das ist nicht das Gleiche. Im Kern geht es darum, sich drei unumstößliche Identitäten vor Augen zu führen:

  1. Die Leistungs- und die Kapitalbilanz eines Landes müssen sich ausgleichen. Ist die Leistungsbilanz positiv (werden vereinfacht gesagt mehr Waren exportiert als importiert), muss die Kapitalbilanz negativ sein (Kapital fließt aus dem Überschussland ab).
  2. Die Differenz zwischen den gesamten inländischen Ersparnissen und den gesamten inländischen Investitionen entspricht dem Saldo der Leistungs- respektive Kapitalbilanz. Sind die inländischen Ersparnisse also höher als die inländischen Investitionen, wird dieses Überschusskapital ins Ausland exportiert.
  3. Alles, was ein Land produziert, muss entweder konsumiert oder gespart werden.

 

Weist nun Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuss aus, fließt entsprechend viel Kapital von Deutschland ins Ausland ab. Zweitens bedeutet es, dass die inländischen Ersparnisse um diesen Betrag höher sind als die inländischen Investitionen.

 

Wie kann nun dieser Leistungsbilanzüberschuss (der zwangsläufig dem Leistungsbilanzdefizit anderer Länder entspricht) abgebaut werden?

 

Ganz einfach: Entweder muss der inländische Konsum steigen (wodurch automatisch die inländischen Ersparnisse sinken), oder die inländischen Investitionen müssen steigen (wodurch sich die Differenz zwischen den Ersparnissen und Investitionen verringert). Das wiederum kann erreicht werden, indem die Löhne in Deutschland ansteigen oder indem etwa die inländischen Investitionen in Deutschland spürbar erhöht werden.

 

Als zwingende Folge davon wird Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss sinken – und das ohne jede Selbstbeschränkung der deutschen Exportindustrie. Es geht also nicht um weniger deutsche Exporte. Der Anpassungsprozess bzw. der Abbau der Ungleichgewichte muss auf deutscher Seite über ansteigenden Inlandskonsum, höhere Importe und signifikant höhere Inlandsinvestitionen bewerkstelligt werden. Das ist sowohl zum Vorteil Deutschlands wie aber auch zum Vorteil der Krisenländer wie der gesamten Eurozone, die infolge des Ausgleichs eine weitaus höhere Stabilität erhielte.

 

Wirtschaftspolitische Perspektiven einer sozial gestalteten Währungsunion

 

Die SPD muss die Auseinandersetzung um eine gleichermaßen tragfähige wie auch soziale Architektur der Eurozone offensiv führen. Sie muss um einen sozialverträglichen Pfad werben und darf sich keinesfalls in das enge Korsett einer einseitigen Austeritätsdoktrin einzwängen lassen, die Wachstumschancen eher behindert als fördert und den sozialen Zusammenhalt in ganz Europa längst zur Disposition stellt. Es geht im Gegenteil um eine europaweit koordinierte Wachstums- und Investitionsstrategie, um weitere Integrationsschritte in den zentralen Fragen der Wirtschaftspolitik und um eine harte Bändigung der Finanzmärkte und der systemrelevanten Großbanken. Wer den harten Kern der Krise ins Visier nehmen will, muss zudem die Verteilungsfrage völlig neu gewichten: als Gebot der ökonomischen Vernunft. Die frappierend angestiegene Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung, ist von international renommierten Ökonomen und Nobelpreisträgern längst als eine der Hauptursachen der Finanzkrise identifiziert worden. Denn es ist die wachsende Ungleichheit, die als eigentlicher Treiber und Motor der verhängnisvollen Ausgaben- und Verschuldungskaskaden in den entwickelten Staaten funktioniert. Das groteske Ausmaß an Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen hemmt und blockiert dagegen die ökonomische Entwicklung. In jüngerer Zeit haben mehrere Studien auf den engen Zusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum hingewiesen. Die Industrieländerorganisation OECD kam etwa zu dem Ergebnis, dass Deutschland sein Bruttoinlandsprodukt deutlich steigern kann, wenn die Ungleichheit entschiedener bekämpft wird. Nicht mit einer zum Dogma erstarrten Austeritätspolitik wird Wertschöpfung und Wachstum generiert, sondern mit einer mutigen Investitons- und Innovationspolitik, einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung und mehr Bildungschancen.

 

Ganz Europa braucht einen ökonomischen Kurswechsel, der sich leiten lässt von der wachsenden Erkenntnis weltweit führender Wirtschaftswissenschaftler, dass sich soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Dynamik wechselseitig ergänzen. Die Sozialdemokratie muss für einen echten wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel eintreten, der mit den verfehlten Grundannahmen der neoliberalen Ära bricht.

Empfehlung der Antragskommission:
Überweisung an nächsten Landesparteitag
Beschluss: Überweisung an nächsten Landesparteitag
Beschluss-PDF: