Die Corona-Pandemie hat uns allen gezeigt: Sie ist nicht nur eine Gesundheitskrise, sie ist vor allem auch eine Katastrophe für das solidarische Zusammenstehen unserer Gesellschaft. Das vergangene Jahr und die derzeitigen Entwicklungen zeigen auch nochmal deutlich, dass uns das Virus weiterhin begleiten und beeinflussen wird. Durch die zahlreichen Impfungen wurden zwar deutlich mehr Möglichkeiten für die Gesellschaft geschaffen, doch wir alle wissen nicht, ob für alle Menschen überhaupt eine Rückkehr zur Normalität möglich ist.
Die Pandemie und die zahlreichen Maßnahmen zur Eindämmung hatten massive Auswirkungen auf sämtliche Bereiche unseres Lebens, die in Teilen so gravierend waren, dass viele Menschen in ihrer Existenz bedroht waren und es noch immer sind. So wären viele Unternehmen und insbesondere Gastronom:innen wie auch Kulturschaffende ohne staatliche Hilfen nicht überlebensfähig gewesen.
Aus dem Blick geraten sind allerdings insbesondere auch die Belange von Menschen, die eben in der Gesellschaft eine Minderheit darstellen und im öffentlichen Diskurs unterrepräsentiert sind. Menschen, die ohnehin – auch in einer coronafreien Gesellschaft – gegen ihre Diskriminierung und für eine Repräsentation in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft kämpfen müssen. Diese Menschen wurden auch an vielen Stellen übersehen. Dazu gehört insbesondere auch die Gruppe der queeren Menschen. „Queer“ bezeichnet an dieser Stelle Personen, Handlungen oder Dinge, die durch den Ausdruck einer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität von der gesellschaftlichen Cisgender-Heteronormativität abweichen.
Gerade in Niederbayern und Bayern sind diese queeren Menschen vollkommen aus dem Blick geraten. Sie spielen ohnehin in den Augen der Bayerischen Staatsregierung – angeführt von CSU und Freien Wählen – kaum eine Rolle, denn sie entsprechen nicht dem typisch bayerischen, vermeintlich christlich-sozialen Ideal. Im ländlichen Niederbayern haben diese Menschen sogar gleich noch unfassbar mehr Probleme und sind der tagtäglichen Diskriminierung noch massiver ausgesetzt als in den Städten des Freistaats. Die ohnehin unfassbar hohen Zahlen an queeren Menschen, die aufgrund dieser Tatsache unter psychischen Problemen leiden, haben gerade in Zeiten der Pandemie massiv zugenommen und kaum jemand hat sich nur im Ansatz für diese Problematiken interessiert. Ganz im Gegenteil: Die Bayerische Staatsregierung hat queere Menschen komplett aus dem Blick genommen, sich nicht ausreichend um sie gekümmert und das nicht nur in Bezug auf die zahlreichen Corona-Verordnungen. Queere Menschen waren schlicht nicht mitgedacht und auch nicht mitgemeint! Wir als SPD stellen klar: Das muss sich ändern!
Queere Menschen sind im gesamten Leben und in allen gesellschaftlichen Strukturen präsent: Sie sind arm und reich gleichermaßen, sie leben in der Stadt und auch in besonders ländlichen Regionen wie Niederbayern, sind weiß oder „People of color“, haben die deutsche Staatsbürgerschaft, sind Migrant:innen, haben Kinder oder nicht und sie sprechen sogar bayerisch. Sie sind also nicht im Ansatz eine homogene Gruppe.
Die Pandemie hatte massive Auswirkungen auf queeres Leben gerade in den verschiedenen Bereichen, denn jegliche Entfaltungsmöglichkeiten, Rückzugsräume lagen weitestgehend brach. Die Sichtbarkeit für die Belange queerer Menschen fehlte: Austausch, Hilfe, Beratung oder einfach nur Unterhaltung mit anderen queeren Menschen waren kaum möglich bzw. mussten online stattfinden. Diese Sichtbarkeit ist jedoch mehr als nur notwendig – wenn nicht sogar lebensnotwendig -, damit queeres Leben überhaupt erlebt werden kann und diese Menschen im öffentlichen Diskurs wahrgenommen werden. Auch deshalb sind Christopher Street Days (CSDs) so wichtig und notwendig, da sie dazu dienen, auf die politischen Anliegen queerer Menschen aufmerksam zu machen.
Als das queere Leben während des Lockdowns völlig brachlag, bedeutete dies: Es fanden keine queeren Stammtische, keine Kneipen-Abende, keine Beratungsangebote statt. Es gab keine Möglichkeit, sich in den sogenannten „safe spaces“ (sicher Rückzugsräume) zurückzuziehen, in denen die eigene Identität nicht als Abweichung von gesellschaftlichen Normen verstanden wird. Insbesondere für queere Jugendliche ist und war diese Entwicklung mehr als nur fatal, denn gerade sie brauchen in ihrer Entwicklung Anlaufstellen, in denen sie so sein können, wie sie sind ohne Angst vor Diskriminierung, (häuslicher/psychischer) Gewalt und Angst haben zu müssen. Denn es darf nicht vergessen werden: Queere Menschen sind noch immer häufig von Diskriminierung betroffen: Am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit oder direkt in der eigenen Familie.
Die Pandemie hat queere Menschen besonders getroffen, wozu inzwischen auch erste Studien und Auswertungen von der Bundesstiftung Magnus-Hirschfeld zeigen1. In diesem Zusammenhang muss noch einmal erwähnt werden, dass die Gruppe der LSBTIQA: keinesfalls eine homogene Gruppe darstellt. Deshalb sind auch ihre Diskriminierungserfahrungen und damit auch ihr Erleben bzgl. der Pandemie und die Auswirkungen auf ihren Alltag, sehr verschieden.
1 Neue Broschüre: Auswirkungen der Coronapandemie aus LSBTIQA+ (mh-stiftung.de), abgerufen am 24.10.2021. Als SPD in Niederbayern und Bayern sind wir ganz klar davon überzeugt, dass es nun an der Zeit ist, genau diese Problematik umfassend aufzuarbeiten, die Leerstellen aus der Coronapolitik mit Blick auf queere Menschen zu finden und daraus Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.
1) Sichtbarkeit
Die stetigen Anpassungen der Coronaverordnungen haben gezeigt, dass immer wieder Menschen oder Gruppen vergessen worden sind. Besonders bemerkbar wurde dies zum Weihnachtsfest im Jahr 2020, als das Zusammenkommen mit der – so genannten – „Wahlfamilie“ unmöglich war und sich Menschen nicht mit ihren Liebsten, mit denen sie nicht verwandt waren, treffen konnten. Freundschaften sind gerade für queere Menschen als Ersatz- oder Wahlfamilie – insbesondere auch oft aufgrund der Situation in der eigenen Herkunftsfamilie – unfassbar wichtig und überlebensnotwendig. Dass sich die Definitionen von „Familie“ deutschlandweit wieder nur auf Heteronormativität und biologische
Verwandtschaft beschränkten, zeigt das antiquierte Bild und durchaus auch die Ignoranz der Gesellschaft. So gab es bei den Kontaktbeschränkungen zu Weihnachten in allen Bundesländern außer Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen Ausnahmeregelungen NUR für den engsten Familienkreis und Verwandte der geraden Linie. Der Lesben- und Schwulenverband Deutschland e.V. (LSVD) kritisierte dabei, dass auch die Bayerische Staatsregierung nur leibliche Verwandte als wichtigste Bezugsperson galten und hatte darum gebeten, die Regelung schnellstmöglich zu ändern, da auch Mitglieder von Wahlfamilien nicht alle am selben Ort wohnen und zudem z.B. Konstellationen in Regenbogenfamilien mit dieser Regelung nur unzureichend berücksichtigt wurden. Der LSVD hätte in diesem Zusammenhang eine einfache Formulierung wie „maximal fünf Personen aus beliebig vielen Haushalten plus Kinder unter 14 Jahren zu privaten Zusammenkünften“ begrüßt. Die Intervention beim zuständigen Staatsministerium hatte jedoch damals keinen Erfolg. Mit der erwähnten Formulierung wäre jedoch auch breiteren Regenbogenfamilien-Konstellationen Rechnung getragen worden. Die Schilderung der Problematik der Coronaverordnungen macht deutlich, dass es nicht reicht, queere Menschen ‚mit zu meinen‘, sondern dass sie auch wirklich ‚mitgedacht‘ werden müssen.
Wir als SPD fordern daher:
- In den künftigen Corona-Verordnungen sollen insbesondere auch die Belange von queeren Menschen unter dem Aspekt der Wahlfamilie zu berücksichtigen. Regelungen in Verordnungen müssen so getroffen werden, dass alle mitgedacht sind. Dazu gehören auch einfache Formulierungen, die alle Menschen gleichermaßen betreffen und die nicht das heteronormative Familienbild einseitig bevorzugen.
2) Stärkung der gesellschaftlichen Vielfalt
Unsere Gesellschaft ist eine Vielfaltsgesellschaft. Allerdings sehen wir in den letzten Jahren eine Entwicklung, die unsere Vielfalt auch durchaus zunehmend bedroht: Durch Hass und Hetze von rechts hat sich unser gesamtgesellschaftliches Klima in den letzten Jahren bereits verschlechtert. Die Entwicklungen rund um die Querdenker:innen-Bewegung in der Corona-Pandemie hat sein Übriges getan: In der letzten Zeit manifestiert sich immer mehr eine aggressive und gewalttägige Stimmung gegen queere Menschen, die sich vermehrt in reale Bedrohungsszenarien und gewalttätige Angriffe umschlägt.
Es gilt hierbei Konzepte für die Stärkung der gesellschaftlichen Vielfalt zu entwickeln:
- a) Schutzbedürftige Geflüchtete
In besonders schwierigen und kritischen psychischen Situationen befinden sich vor allem queere Geflüchtete: Sie haben – sehr oft unter hohem Risiko – ihre Heimat verlassen, um wegen ihrer Sexualität oder Identität nicht weiter verfolgt zu werden und bei uns Asyl zu suchen, aber gerade auch in der Lockdown-Zeit in den Sammelunterkünften wurden sie mehr als nur allein gelassen. Sie haben nicht nur unfassbare Probleme damit offen ihre sexuelle Orientierung in den Sammelunterkünften ausleben zu können, sie hatten auch in keiner Weise Ansprache und Unterstützung von Sozialarbeiter:innen. Es gab in diesem Zusammenhang mehrere Berichte gegenüber dem Netzwerk LSBTTIQ, dass sich queere Geflüchtete gar in ihren Zimmern verbarrikadiert hätten, um nachts überhaupt schlafen zu können, da sie Angst vor Gewalt und Belästigung hatten. Für sie muss dringend ein Mindestmaß an persönlicher Interaktion mit Sozialarbeiter:innen gewährleistet sein:
- Queere Geflüchtete benötigen in den Asylverfahren eine besondere Beratung, dafür geschultes und für die besonderen Problemlagen sensibilisiertes Personal. Deshalb benötigen wir ein Konzept für die Beratung und Betreuung queerer Geflüchteter, das rechtliche aber auch insbesondere psychologische Unterstützung umfasst.
- Darüber hinaus erleben queere Geflüchtete häufig vielfältige Formen von Diskriminierungen in Sammelunterkünften. Deshalb fordern wir, dass queere Geflüchtete in Sammelunterkünften für queere Menschen untergebracht werden können, wie dies auch vereinzelt bundesweit in Form von Einzelunterkünften für Frauen und Kinder bzw. besonders Schutzbedürftige auf Initiative der Kommunen praktiziert wird. Hierbei sollten auch queere Menschen berücksichtigt werden.
- b) Queere Jugendarbeit
Das Problem mit dem bereits erwähnten Familienbild besteht auch weiterhin, weil es vom Sprachgebrauch, also damit auch juristischer Sprache, abhängig ist. Eine Beschränkung auf die heterosexuelle Kernfamilie ignoriert sowohl das Vorkommen häuslicher Gewalt als auch die mitunter schrecklichen Diskriminierungserfahrungen, die queere Menschen in ihren Herkunftsfamilien machen müssen. Freundschaften als Wahl- und Ersatzfamilie sind daher – wie bereits erwähnt – für LGBTIQ: existenziell.
Vielfalt macht unsere Gesellschaft aus. Und dazu gehören insbesondere auch Orte, an denen Vielfalt gelebt wird. Deshalb werden wir die wenigen, vielfältigen Orte innerhalb der Community in Bayern weiter erhalten und stärken. Kulturelle und soziale Angebote der Community sollen deshalb auch unabhängig von der Pandemie noch großzügiger gefördert werden. Viele Angebote der queeren Jugendarbeit sind durch die Pandemie bedroht. Gerade auch der Wegfall von einigen psychosozialen Beratungsangeboten für queere und dabei ganz besonders für trans:-Personen sind und waren schwerwiegend.
Bei trans:-Personen hat sich also die ohnehin schwierige Lage durch die Lockdowns noch einmal dramatisch verschlechtert. So haben viele trans:-Personen auch in Lockdown-Zeiten aufgrund der ökonomischen Lage vielerorts ihre Arbeitsplätze verloren, standen damit vor massiven finanziellen Schieflagen und konnten sich so auch ihre Hormontherapien nicht weiter leisten. Auch das Doppelleben, das trans:-Personen besonders in den ländlichen Regionen führen (in der Arbeit evtl. geoutet, zuhause nehmen sie ihre bisherige Rolle als Vater/Mutter in der Familie wahr), belasten und belasteten diese Personen gerade in der Pandemie besonders stark. Das geht so weit, dass sich ohnehin schon vorhandene psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen nur noch schlimmer wurden. Diese Beobachtungen werden auch durch die Studie „transcarecovid“2 bestätigt.
2 How the COVID-19 pandemic affects transgender health care in upper-middle-income and high-income countries – A worldwide, cross-sectional survey (https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.12.23.20248794v1.full), abgerufen am 26.10.2021.
Auch bei queeren Jugendlichen haben die Lockdowns zu einer deutlichen Verschlechterung ihrer allgemeinen Situation geführt: Gerade affektiv-depressive Störungen sowie Suizidversuche unter Jugendlichen haben gerade in der Corona-Situation zugenommen. Dies liegt – wie bereits mehrfach angesprochen – besonders daran, dass für queere Jugendliche das eigene Zuhause oft kein sicherer Ort war und ist. Und die Orte, an denen sich die Jugendlichen angenommen fühlen, sind aufgrund des Lockdowns oft weggefallen. Natürlich gab es Online-Beratungsangebote, doch die ersetzen in keinem Fall ein persönliches, geheimes Gespräch.
Aus diesem Grund fordern wir:
- Angebote für queere Jugendarbeit müssen Teil der offiziellen Jugendarbeit sein und auch bei der finanziellen Förderung angemessen berücksichtigt werden. Bislang ist dies in Bayern oft Fehlanzeige.
- Wie bereits in Nordrhein-Westfalen soll queere Jugendarbeit auch bei uns in Bayern zunehmend professionalisiert werden, was ganz konkret bedeutet: Hauptamtliche Mitarbeiter:innen sollen queere Jugendarbeit ermöglichen und auch in dieser direkt tätig sein. Die bislang tätige „LGBTIQ:-Fachstelle gegen Diskriminierung und Gewalt“, die vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales mit gefördert wird, reicht nicht im Ansatz auch für diese queere Jugendarbeit aus. Aus diesem Grund fordern wir zudem eine eigene Fachstelle für queere Jugend in Bayern. Analog zur 2014 in NRW eingerichteten „Fachstelle Queere Jugend NRW“. Durch diese sind viele Anlaufstellen gerade für queere Menschen entstanden und vielerorts – auch dezentral -konnten damit hauptamtliche Stellen für pädagogische Fachkräfte etabliert werden.
- Besonders Niederbayern zeigt: Wir brauchen deutlich mehr Strukturen für Angebote für queere Menschen. Durch die Schaffung einer Fachstelle für queere Jugendarbeit könnten gerade solche Strukturen auch im ländlichen Bereich flächendeckender umgesetzt werden, Vereine wie „Queer in Niederbayern e.V.“ strukturell deutlich besser unterstütz und vor allem auch die Kommunen dazu befähigt werden, vor Ort Beratungsangebote aufzubauen.
- Bayern braucht dringend einen LGBTIQ:-Aktionsplan, den die Bayerische Staatsregierung bislang aber vollkommen abgelehnt hat.
- Die Beratung von LGBTIQ:-Personen muss in unseren Augen Bestandteil der allgemeinen psychosozialen Beratung werden. Nur dann können entsprechend geschulte bzw. ausgebildete psychologische Fachkräfte beschäftigt werden.
- Bei psychosozialen Beratungsangeboten müssen auch deutlich stärker Akzente auf die spezifische Lage von trans:-Personen gelegt werden. Dabei ist es besonders wichtig neutrale und durchaus vielfältige und nicht nur-konfessionelle Beratungsangebote in den Blick zu nehmen und anzubieten. Gerade konfessionelle und teilweise fundamentalistische Beratungsangebote sind in den ländlichen Regionen Bayerns noch immer auf der Tagesordnung.
- c) Mental Health als queere Querschnittsaufgabe
Im Kontext der Pandemie ist die Gesundheitspolitik in den Fokus gerückt. Wir werden dafür sorgen, dass die Funktionsfähigkeit und Gerechtigkeit unseres Gesundheitssystems umfassend überprüft wird. Ein besonderer Schwerpunkt dabei soll der Bereich der „mental health“ sein. Die prekäre Situation für Menschen mit Bedarf an Beratung im psychosozialen Bereich darf nicht so bleiben wie bisher. Neben einem quantitativen Ausbau des Angebots setzen wir insbesondere auch für eine qualitative Verbesserung der Gesundheitsversorgung ein. Das Angebot der psychischen Gesundheitsversorgung soll die Vielfalt der Bevölkerung widerspiegeln. Queere Menschen leiden häufiger unter psychischen Problemen als nicht-queere Menschen, weil sie vielfältigere Formen von Diskriminierungen und Gewalt ausgesetzt sind.
Unsere Forderungen sind deshalb: