Stand Februar 2015 findet im deutschen Strafvollzug eine Gefangenenseelsorge für Angehörige muslimischer Konfessionen nur in Niedersachsen statt, nachdem das Bundesland Berlin ein entsprechendes Pilotprojekt abgebrochen hat. Eine konfessionelle Gefangenenseelsorge ist jedoch nach § 157 StVollzG Aufgabe des Justizvollzuges. Zwar sieht das Gesetz eine „anderweitige Betreuung“ vor, wenn die geringe Zahl der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft eine hauptamtliche Seelsorge nicht rechtfertigt, dies ist jedoch zumindest in den meisten Bundesländern für MuslimInnen längst nicht mehr der Fall. Konfessionslose Gefangene werden überhaupt nicht betreut.
Der Anteil muslimisch gläubiger Gefangener an der Gesamtzahl Inhaftierter liegt je nach Bundesland im mittleren ein- bis niedrigen zweistelligen Prozentbereich (Beispiele: Niedersachsen: 8%, Berlin: ca. 20%). Nach Artikel 140 GG ist dabei die Sicherstellung der Gefängnisseelsorge eine gemeinsame Aufgabe des Staates und der betreffenden Religionsgemeinschaften. Da jedoch konfessionslose, islamische und andere Weltan schauungsgemeinschaften bisher vereinsmäßig und in Verbandsstrukturen, nicht jedoch übergreifend als Körperschaften öffentlichen Rechts organisiert sind, ergibt sich eine Differenz zur christlichen Gefangenenseelsorge, die durch die großen Konfessionskirchen getragen wird. Für den Staat ergibt sich damit die Schwierigkeit „im Einvernehmen mit den Religionsgemeinschaften“ Seelsorger hauptamtlich (als BeamtInnen auf Lebenszeit) zu ernennen oder im Angestelltenverhältnis im Staatsdienst zu beschäftigen.
Dies kann jedoch kein dauerhaftes Hindernis für die Bereitstellung einer umfassenden und flächendeckenden Gefängnisseelsorge darstellen. Die Gefangenen anderer Weltanschauungen haben auf eine solche schlicht ein gesetzliches Anrecht.
Eine zusätzliche Dringlichkeit der Abschaffung dieses Missstandes ergibt sich dabei aus der Auswertung von biographischen Werdegängen fundamentalistischer GewalttäterInnen (z.B.: Attentäter von Paris und Kopenhagen, westliche UnterstützerInnen des IS und anderer islamistischer Bürgerkriegsparteien im Nahen Osten. Diese lässt den klaren Rückschluss zu, dass die maßgebliche Radikalisierung dieser jungen Menschen sehr häufig im Strafvollzug stattfand. Dabei hatten die der Haftstrafe zugrunde liegenden Straftaten häufig keinerlei religiösen Bezug, vielmehr handelte es sich zuallermeist um Eigentums- und Gewaltdelikte (Diebstahl, Betrug, Körperverletzung, Raub, usw.), die eher in Zusammenhang mit der vorhandenen sozialen Ausgrenzung und persönlichen Perspektivlosigkeit zu sehen sind.
Junge, von der Gesellschaft desillusionierte Menschen werden dabei unter den Bedingungen einer Freiheits strafe leicht zu Opfern einer vermeintlich sinngebenden Hinwendung zu fundamentalistischen Interpretationen von Religionen, die ihnen zur Aufrechterhaltung und Schaffung einer eigenen Identität in Abgrenzung von der als ablehnend empfundenen Mehrheitsgesellschaft dienen. Diese kann sowohl durch Vermittlung über entsprechend indoktrinierte Kontaktpersonen (Mitgefangene) wie auch durch naives Selbststudium religiöser Schriften erfolgen. Eine solche Radikalisierung geht dabei zumeist ohne eine tiefere Auseinandersetzung mit zentralen Glaubensinhalten und entsprechender Wissensaneignung einher. In Gefängnissen routinemäßig ergriffene Maßnahmen wie die Nutzung von Sperrlisten im Internet oder ähnliches können eine Verbreitung entsprechenden Gedankengutes nicht verhindern Während andere Staaten wie Frankreich in Reaktion auf die Anschläge in Paris (auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und den jüdischen Supermarkt) das Problem durch Sonderhaftanstalten für „islamistische Straftäter“ zu begrenzen versuchen, ist es der vorrangige Auftrag der deutschen Strafgerichtsbarkeit, Häftlinge zu resozialisieren und auf eine Rückkehr in die Gesellschaft vorzubereiten. Gerade angesichts des Ziels der Resozialisierung und der Erfordernis, die Haftstrafe möglichst kurz zu halten, ist es von oberster Priorität, der Radikalisierung von Strafgefangenen vorzubeugen.
Dabei ist natürlich eindeutig, dass auch eine kompetente und als Glaubensautorität empfundene Seelsorge nur ein Baustein einer größeren Anstrengung zur (Re-)Integration und Radikalisierungsverhinderung leisten kann. Nur im Zusammenwirken mit bereits vorhandenen und weiter auszubauenden Programmen im Bereich der (Gewalt-)Prävention sowie der Jugend- und Sozialarbeit können langfristige Erfolge erzielt werden. Wir fordern daher, dass in allen Bundesländern unverzüglich ein Prozess zur flächendeckenden Etablierung einer Gefängnisseelsorge für alle Weltanschauungen angestoßen wird.
Diese ist im Zusammenwirken mit den vor Ort organisierten islamischen Verbänden anzustreben. Ist eine Darstellung der Gefängnisseelsorge durch die Uneinigkeit der Verbände untereinander, eine fundamental abweichende Vorstellungen der Verbände in Bezug auf die Funktion der Seelsorge oder die Propagierung verfassungsfeindlicher Glaubensinhalte durch FunktionärInnen/VertreterInnen der Religionsgemeinschaften nicht möglich, so sollen die jeweiligen Bundesländer ein eigenständiges Seelsorgeangebot schaffen. Dabei ist darauf zu achten, dass alle einzustellenden hauptamtlichen muslimischen SeelsorgerInnen umfassende akademische Qualifikationen in islamischer Theologie bzw. Islamwissenschaften aufweisen. Gegebenenfalls ist eine Schulung/Qualifizierung bereits vorhandener religiöser Autoritäten durch Aufbaustudiengänge zu erwägen. So die Anzahl der Häftlinge eine Differenzierung nach Glaubensrichtungen/ Konfessionen zulässt, ist die Seelsorge bekenntnisgebunden für alle Konfessionen hinreichender Größe anzubieten.
Damit soll sichergestellt werden, dass auch jedem muslimisch gläubigen Häftling regelmäßig einE kompetenteR AnsprechpartnerIn zur Verfügung steht, der Fragen über und in Bezug auf Religion und Weltanschauungen mit einer entsprechenden Autorität beantworten und das Selbststudium anleiten und begleiten kann. Die Anstellung soll im staatlichen Angestelltenverhältnis erfolgen (öffentlicher Dienst). Entlohnung und Arbeitsbedingungen sollen den SeelsorgerInnen christlicher Konfession gleichgestellt werden. Im Auswahlprozess der Seelsorger (z.B. bei Berufungskommissionen) sowie eventueller „freier SeelsorgehelferInnen“ ist bei Bedarf
auf die Fachkenntnisse universitärer Forschungsinstitutionen zurückzugreifen sowie eine Abfrage polizeilicher und geheimdienstlicher Institutionen durchzuführen. Es soll sichergestellt werden, dass die GefängnisseelsorgerInnen auch in der Transitionsphase nach einer Haftentlassung als AnsprechpartnerInnen der ehemaligen Häftlinge zur Verfügung stehen und diesen weitere Hinweise in Bezug auf Resozialisierungsprogramme, eine Nachbetreuung oder religiösen Anschluss geben können.
Die Einbindung regionaler Weltanschauungs-/Religionsgemeinschaften in die Gefangenenseelsorge soll dabei nach Maßgabe des Anstaltsleiters (gemäß § 157/3 StVollzG) auf Veranlassung der hauptamtlichen Seelsorger in Form „freier SeelsorgehelferInnen“ erfolgen, soweit dies zur Abwicklung religiöser Glaubensakte oder sonstiger Veranstaltungen notwendig erscheint. Langfristig ist es unser Ziel, dass – soweit es
ermöglicht werden kann – die Gefangenen aller Religionen eine ihrem Glauben entsprechende Seelsorge erhalten können.