B6 06 Gemeinschaftsschule

  1. Gemeinschaftsschule ergänzt als zusätzliches Angebot die bayerische Schullandschaft, wie schon in den anderen 15 Bundesländern.
  2. Gemeinschaftsschule setzt auf längeres gemeinsames Lernen und die bewährten Methoden der Reformpädagogik.
  3. Ausgehend vom gymnasialen Niveau werden alle Schulabschlüsse angeboten.

 

Einführung. Unser Verständnis von einem Kind ist das eines „mit Leib, Geist und Seele einmaligen, unverwechselbaren und ganzheitlichen Geschöpfes. Es besitzt eine besondere Würde. Es hat ein Anrecht auf sein eigenes Leben, es hat seine eigene Natur, die von der der Erwachsenen unterschieden ist. Sie ist gekennzeichnet durch Spontanität, Initiative und Willen zur Entfaltung der angelegten Fähigkeiten.“

„Das Kind ist zwar Person, aber noch nicht voll entfaltet. Diese Arbeit kann nur das Kind selbst erbringen. … Jedes Kind will arbeiten. … Es ist zur Selbstverwirklichung in Freiheit berufen und fähig. … Freiheit und Ordnung bedingen sich gegenseitig und bilden ein Gegengewicht zu Zerstreuung, Streit und Chaos.“

In unseren gegenwärtigen Schulen werden die Schüler:innen auf Schulaufgaben punktgenau „hin getrimmt“, anstatt sie an Zusammenhänge heranzuführen. Was zählt ist kurzfristiges schulaufgabenzentriertes Wissen und weniger nachhaltiges Lernen und Verstehen. In Bayerns Bildungseinrichtungen gibt es zu wenig Zeit zum Lernen. Dies führt, wie am übereilt eingeführten G8 zu erkennen war, zu Turboschulen mit der Folge, dass der Unterricht nach Hause verlagert wird. Wer in der Schule nicht mitkommt, muss den umfangreichen Lehrstoff zu Hause „verstehen lernen“. Wenn er kann!

„Wenn wir die Kinder des 21. Jahrhunderts von Lehrern mit einem Ausbildungsstand des 20. Jahrhunderts in einem Schulsystem unterrichten lassen, das im 19. Jahrhundert konzipiert wurde und sich seitdem nur graduell verändert hat, dann kann das so nicht funktionieren.“

 

06.01 Bildungspolitik der Zukunft.

Wir werden in einer Bildungspolitik für die Zukunft unterschiedliche individuelle Lernangebote bereitstellen und lassen die Kinder nicht auf unterschiedliche Schularten zerfasern. Unser Verständnis von Schulorganisation erschöpft sich nicht im gemeinsamen Unterricht im Klassenverband, sondern wird ergänzt durch das Arbeiten in jahrgangsgemischten oder klassenübergreifenden heterogenen Lerngruppen. Entscheidend ist, dass sich Lehren und Lernen an der individuellen Entwicklung und Leistungsfähigkeit der Lernenden orientieren.

Bisher geht Bayern leider den Weg der Selektion am Ende der Jahrgangsstufe 4 der Grundschule und des „Lernen im Gleichschritt“, wo jeder Schüler, jede Schülerin unabhängig von der individuellen Entwicklung und Leistungsfähigkeit punktgenau ein vorgeschriebenes Lernpensum erreicht haben muss. Dies führt zu Demotivation, Über- oder Unterforderung und Ungerechtigkeiten.

 

06.02 Schulen der Zukunft.

Unsere Schulen werden sich durch ein Höchstmaß an Selbständigkeit und Selbstverantwortung auszeichnen. Schulen werden zuständig sein für die selbständige pädagogische Profilbildung, die eigenverantwortliche Gestaltung des Unterrichts, die selbständige Verwaltung eines Budgets und die Freiheit besitzen, Personalentscheidungen treffen zu können.

 

06.03 Stärken der Lernenden fördern.

Ein Prinzip des Lernens in der Gemeinschaftsschule wird sein, das untere Leistungsniveau ständig anzuheben und Stärken der Lernenden zu fördern. Die Lehrenden sind Mentor:innen für Lernende. Neben der Vermittlung von Grundwissen und Fachwissen wird die Sozialkompetenz in den Lehrzielkatalog aufgenommen. Jedes Kind steckt in individuellen Lebenssituationen. Die Bildungseinrichtungen werden sich auf diese Individualität einstellen und nicht umgekehrt. Grundlage dafür muss es aber sein, jedem:r Einzelnen den für sie/ihn nach ihren:seinen individuellen Fähigkeiten gangbaren Bildungsweg zu eröffnen.

Bildung und Leistung können nicht „herbeikommandiert“ werden. Dies gilt auch und insbesondere für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Das gesamte bayerische Bildungssystem muss nach dem Grundsatz organisiert werden, allen Kindern und Jugendlichen unabhängig vom Bildungshintergrund der Eltern, nach Neigungen, Fähigkeiten und der unterschiedlichen Entwicklung individuell zu fördern.

 

06.04 Alle Bildungseinrichtungen sind inklusive Fördereinrichtungen.

Die Gemeinschaftsschule ist eine Schule für alle Kinder. Sie nimmt alle Kinder auf und gibt allen die Möglichkeit, einen für sie angemessenen Schulabschluss zu erreichen.

Alle Bildungseinrichtungen werden gemäß Artikel 24 (1) der UN-Konvention zu inklusiven Fördereinrichtungen. Hoch spezialisierte Fördereinrichtungen müssen dabei erhalten bleiben. Individuelle Förderung braucht Zeit und Raum. Zeit ist die Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Lernenden. Zeit ist für das Lernen und Üben erforderlich. Das pädagogische Personal braucht Zeit, um einen kreativen und pädagogisch hochwertigen Unterricht zu gestalten und stets weiterzuentwickeln. In Bayern wird zu wenig individuell gefördert, zu früh und zu oft selektiert.

 

06.05 Ganztagsschule.

Die Gemeinschaftsschule ist an mindestens drei oder vier Tagen eine gebundene, an ein bis zwei Tagen eine offene Ganztagesschule mit zusätzlichen Wahlangeboten in Kooperation mit den örtlichen Vereinen und der regionalen Wirtschaft. Hausaufgaben und Nachhilfe entfallen, weil die nötigen Übungsphasen in der Schule stattfinden. Beides leistet die Gemeinschaftsschule. Mittagessen über die schuleigene Mensa und Betreuungsangebote auch außerhalb der Schulzeiten sind selbstverständlich.

 

06.06 Lernzeit an der Gemeinschaftsschule.

Lernende arbeiten in der Regel an einem Wochenplan. Wochenplan-Arbeit ist in vielen Schulen im In- und Ausland erprobt und seit Jahrzehnten bewährt. Der Schulalltag ist in verschiedene eingeteilt, die sich schon in der Reformpädagogik bewährt haben:

Der Schulalltag ist in verschiedene Lernzeiten eingeteilt:

  • Klassenkreis
  • Selbstorganisiertes Lernen (SOL) bzw. Selbstgesteuertes Lernen (SegeL)
  • vernetzter Unterricht (VU)
  • Fachunterricht
  • Mittagsfreizeit
  • Handwerkserziehung (mit der folgenden Zeile getauscht)
  • Offene Angebote (Neigungsgruppen/Arbeitsgemeinschaften)

Die Schüler:innen werden von einem Lehrer:innen-Team, bestehend aus zwei Klassenlehrer:innen und Lehrer:innen mit verschiedenen fachlichen Schwerpunkten betreut. Unterstützung bekommen sie von einem multiprofessionellem Kompetenz- und Expertenteam, das die weiteren Anforderungen, wie z. B. Persönlichkeitsentwicklung, Umgang mit digitalen Medien, etc. abdeckt.

 

06.07 Lernorte.

Durch moderne Unterrichtsmethoden (selbstorganisiertes und kooperatives Lernen) und Jahrgangsmischung ist es möglich, dass alle Lernenden in ihrer Schule bis zur Jahrgangsstufe 10 (Sekundarstufe 1) weiter gehen können. Bei einer ausreichenden Zahl von Lernenden ist eine gymnasiale Oberstufe an der Gemeinschaftsschule möglich und die Schüler bleiben bis zum Abitur im Ort. Längeres gemeinsames Lernen mit starker Individualisierung ermöglicht es den Lernenden immer die richtigen Lernpakete zu schnüren und sie optimal auf alle Abschlüsse und Übergänge vorzubereiten. Dabei hat eine starke Berufsvorbereitung ebenso Platz wie das Aneignen zum Beispiel weitere Fremdsprachen als Vorbereitung auf die Gymnasiale Oberstufe.

 

06.08 Gegen das Schulsterben im ländlichen Raum.

Mit der Gemeinschaftsschule werden wir dem Schulsterben im ländlichen Raum ein Ende setzen. Deswegen und um Bildungsgerechtigkeit herzustellen, werden wir Gemeinschaftsschulen, wie es sie bereits in den anderen 15 Bundesländern gibt, flächendeckend in ganz Bayern möglich machen. Gleichzeitig werden wir das Übertrittszeugnis abschaffen. Dafür werden wir unverzüglich die gesetzlichen Weichen stellen.

 

06.09 Leistungen.

Die Gemeinschaftsschule bietet:

  • gymnasiale Standards ab Jahrgangsstufe 5 mit Anpassung an das Leistungsvermögen der Lernenden
  • Vermittlung von Kernkompetenz und kindergerechte Lehr- und Lernmethoden
  • individuelle Förderung jedes Einzelnen
  • Schule vor Ort: kurzer Schulweg für Kinder
  • alle in Bayern üblichen Abschlüsse nach den Jahrgangsstufen 9 bzw. 10, z.B.: Qualifizierender Mittelschulabschluss („Quali“), Realschulabschluss (Mittlere Reife) und die Berechtigung zum Eintritt in die Oberstufe des Gymnasiums ohne zusätzliche Prüfung bzw. Eintritt in die gymnasiale Oberstufe der Gemeinschaftsschule;
  • spezielle Lernmodule, die auf die verschiedenen Abschlüsse vorbereiten;
  • kleine Klassen bzw. Lerngruppen bis max. 24 Schüler;
  • einen sanften Übergang von der Grundschule zur Gemeinschaftsschule OHNE Übertrittszeugnis.

06.10 Leistungsnachweise und Rückmeldungen.

„Die Schule ist mit Prüfungen und Noten zur Treibjagd verkommen“ (Remo Largo, Schweizer Kinderarzt und Entwicklungspsychologe). Dem wirkt die Gemeinschaftsschule mit 4 Formen der Rückmeldung entgegen:

  • der persönliche Brief beschreibt die Entwicklung,
  • Selbsteinschätzung, z. B. über Lerntagebücher und Portfolios,
  • Lernentwicklungsbericht als Gesprächsgrundlage mit Schüler:innen und Eltern, sowie,
  • Noten, aber nur sofern darauf wegen der Bewerbung oder Abschlüssen zurückgegriffen werden muss.

 

06.11 Grundzüge der Lehr- und Lernmethoden.

Schüler:innen Lernenden wird die Möglichkeit gegeben, schrittweises, selbständiges und selbstverantwortliches Arbeiten einzuüben. Dies ermöglicht den Lernenden, den Lernprozess mehr und mehr selbst zu gestalten. Lehrziele werden dem Leistungsvermögen des Einzelnen angepasst, das Lerntempo bestimmt jeder selbst. Selbständigkeit ist eine Grundkompetenz für die Arbeitswelt und erfüllte Lebensführung.

06.11.1 Prinzip der vier Pädagog:innen. Jeder Lernende hat vier Pädagog:innen die ausgebildeten Lehrer:in, die Mitschüler:innen, den Raum und die Zeit. Die wesentliche Unterrichtsaktivität wird von der Lehrkraft auf die Lernenden verschoben. Somit ist es Schülern nicht mehr möglich, sich passiv berieseln zu lassen und Lernen als reine Anwesenheit zu verstehen. Dadurch, dass sie dabei auf ihre Mitschüler:innen angewiesen sind, erwerben sie Kompetenzen, die sie für ein erfolgreiches Studium und für erfolgreiche berufliche Tätigkeit dringend benötigen. Dabei ist die Schule insgesamt ein vorbereiteter Raum mit starkem Betätigungsangebot mit der Aufgabe, dem Kind zu erlauben, sich zu entfalten. Der Raum erlaubt die Wahl zwischen konzentrierter Einzelarbeit in Isolation, Partner:innen- und Kleingruppenarbeit mit Diskussion, Klassenarbeit in größeren Gruppen sowie Freizeitaktivitäten und Erholung. In Lernzentren finden sich alle erforderlichen Materialien. Mehr Zeit ist erforderlich, um jeden Lernenden wirklich und länger zu erreichen. „Zeit verlieren heißt Zeit gewinnen“ sagte schon J.-J. Rousseau und meinte damit sicher, dass die heute übliche Beschleunigung und Verdichtung von Unterricht kontraproduktiv ist. Z. B. Teamarbeit, vernetztes Lernen, Projekte, handwerkliches und musisches Tun in der Gemeinschaft benötigen mehr Zeit, machen aber Lernprozesse erst wirklich nachhaltig.

06.11.2 Direkte Instruktion. Für diesen Weg ist die international bewährte Methode der Direkten Instruktion ideal: anders als im zurzeit vorherrschenden Frontalunterricht, in dem das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch die zentrale Rolle einnimmt oder es lange Lehrer:innenvorträge gibt. Am Anfang erklärt die Lehrkraft die Kompetenz, die die Schüler:innen anwenden sollen, so lange, bis sie alle verstanden haben. Und im Lernprozess gibt die Lehrkraft allen die benötigte Hilfe. Am Ende werden die Lernenden in der Lage sein, selbständig Wissen zu erarbeiten. Denn auch in der direkten Instruktion wird Selbständigkeit als Ziel von Unterricht gesehen.

06.11.3 Das kooperative Lernen. Auch diese Methode ist international bewährt unter dem Namen „think, pair, share“, wobei die Lernenden in drei Schritten zu ihrem Lernerfolg kommen:

  • Nach-Denken (think): In Einzelarbeit und durch Unterstützung der Lehrenden wird das Thema durchdrungen, bestehende Lernerfahrung angewendet und Strukturen erarbeitet.
  • Austauschen in Partnerarbeit (pair) oder Kleingruppen werden die fehlenden Inhalte ergänzt, bewertet und eingeordnet. Stärkung der sozialen Kompetenz steht hier im Mittelpunkt.
  • Präsentieren (share): Der Lernerfolg muss gesichert werden. Dies kann u.a. dadurch geschehen, dass das Erarbeitete vor Lerngruppen oder größerem Publikum vorgetragen wird. Motto: Was man erklären kann, hat man auch verstanden!

Ein Team aus Lehrenden begleitet die Lernenden intensiv bei diesem Lernprozess. Eine große Rolle spielen hier aber auch die Mitschüler:innen (Lernpartner:innen) als „zweite Pädagog:in“.

06.11.4 Lernen durch Arbeiten in Projekten. Die Entwicklung der Selbständigkeit wird gefördert durch das Arbeiten in Projekten. Themen auswählen und Arbeitsabläufe planen, sie schrittweise ausführen bis zum Erfolg und das Ergebnis zu sichern ist anspruchsvoll und nahe an der beruflichen Wirklichkeit. Projektarbeit hat sich in über 100 Jahren bewährt, drang aber nur sehr langsam in die bayerische Schule.

 

06.12 Eltern.

Eltern sind ein aktiver Teil der Schulfamilie, genauso wie Schüler:innen, Lehrer:innen, Sozialpädagog:innen und alle anderen Mitarbeitenden. Über die in der Schulordnung bereits festgelegte Mitwirkung arbeiten sie bei der Entwicklung und Umsetzung des Schulprogramms aktiv mit und helfen, den Kontakt zu externen Partnern zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. In Elternseminaren werden z. B. das Konzept und spezielle Vorhaben erläutert und diskutiert. Auf Dauer wird so eine viel positivere Identifikation der Kinder und Eltern mit der Schule erreicht.

 

06.13 Zusammenfassung.

Wir brauchen eine Schule für alle, damit

  • Kinder und Jugendliche ihre persönlichen Lernwege gehen können – ohne durch Zeit- und Notendruck entmutigt zu werden
  • Entwicklung und Lernprozess jedes einzelnen Kindes im Mittelpunkt steht – ohne Übertrittsstress und Dramen in den Familien
  • durch schüler:innenaktives Arbeiten nachhaltiges und vernetztes Lernen möglich wird – anstatt frontaler Belehrung und Bulimie-Lernen für die nächste Prüfung
  • jedes Kind seine Potentiale entfalten kann, anstatt durch Einheitsunterricht im Gleichschritt über- oder unterfordert zu sein
  • Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen inklusive Schulen besuchen können – anstatt ausgesondert zu werden
  • in Ganztagsschulen allen Kindern eine anregende Umgebung und individuelle Förderung zugutekommt – ohne Zusatzausgaben für Nachhilfe
  • Kinder wieder mehr Freizeit haben, anstatt nach dem Nachmittagsunterricht und wegen in der Schule nicht angebotenen Übungsmöglichkeiten stundenlang und allein für sich Hausaufgaben machen zu müssen

„Die frühe Selektion in Deutschland hat eine Reihe von Auswirkung – ausschließlich negative“ (Remo Largo, Kinderarzt und Entwicklungspsychologe).

Dass die aufgezeigten Wege funktionieren, zeigen mehrere europäische Länder, darunter auch alle Bundesländer, bis auf Bayern.

 

 

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